von Dr. Marcus Faber MdB

Als ich im August in Kyiv, Charkiw und im Donbass war, war die Ukraine in Bewegung. Nach dem Schock von Russlands Überfall war der bloße Impuls zu überleben zu spüren. Der Impuls, nicht in einem riesigen Butscha zu leben. Die Befreiungen von Lyman und Kherson haben diesem Impuls durch die entdeckten Massengräber und Folterkammern neue Nahrung gegeben. Heute ist das anders. Heute wissen die Ukrainerinnen und Ukrainer, dass es ein langer schmerzvoller Weg bis zum Sieg werden kann. Die Ratio hat die Emotio verdrängt. Die Entschlossenheit ist geblieben.

Das wird deutlich, wenn man im Präsidentenpalast über die täglich verschossene Munition und den benötigten Nachschub redet – über die Produktionskapazitäten, die in Europa geschaffen werden müssen. Das wird deutlich, wenn man sich in Charkiw die bombardierte Sporthalle der Universität zeigen lässt – ein Totalschaden. Dennoch sind die Menschen hoffnungsvoll, weil es besser wird. Der Feind ist zurückgedrängt. Die Hälfte der besetzten Gebiete ist befreit. Die Einschläge der Raketen und Kamikaze-Drohnen werden weniger – und meistens hat man sogar Strom und Heizung.

Der Panzertruppe an der Front bei Kupiansk merkt man die Minus 15 Grad Celsius gar nicht an, die zumindest in meine Stiefel kriechen. Sie sind stolz auf ihren T64. Sie erklären die Bedienung des Geräts gerne sehr praktisch – im Kampfpanzer. Ein robustes Fahrzeug aus einer anderen Zeit. Ein halbes Jahrhundert ist es her, dass es in Dienst gestellt wurde. Auch nach der erfolgreichen Zerstörung von Panzern der Besatzer wissen die jungen Ukrainer, dass sie mit einem Leopard 2 erfolgreicher sein könnten. Natürlich ist das ihr Wunsch für 2023. Sie wollen modernes Gerät, um ihr Land schneller und mit weniger Verlusten zu befreien. Sie wollen den Leopard, um den Krieg schneller erfolgreich zu beenden. In der Ukraine vergeht kein Gespräch, ohne dass dieser Wunsch geäußert wird.

Die Fahrt durch Lyman ist eisig. 30 Prozent der Wohngebäude sind komplett zerstört, 90 Prozent sind beschädigt. Eine Heizung hilft wenig, wenn die Wohnung keine Fenster mehr hat. Etwas außerhalb der Stadt findet man die Massengräber. 350 Menschen wurden hier verscharrt, davon 290 Zivilisten. Die 60 Kinder darunter gehen mir besonders nah. Die Ukrainer nehmen vor der ordentlichen Bestattung DNA-Proben zur Identifizierung. Sie gleichen sie mit DNA-Proben von Bürgern ab, die Angehörige vermissen – so konnten viele Opfer identifiziert werden.

Im August konnte ich in Kramatorsk bei 35 Grad Celsius sehen, wie Schützengräben in der Innenstadt ausgehoben wurden. Damals habe ich nicht angenommen, die Stadt noch einmal besuchen zu können. Die Stadt wurde gehalten. Die Schützengräben sind noch da – und bei 50 Grad weniger zum Glück unbesetzt. Die stärksten Kämpfe finden 40 Kilometer entfernt, in Bachmut, statt. Die Unmenschlichkeit des Häuserkampfs dort will ich mir nicht vorstellen.
Die Bitte des Kommandeurs eines Infanteriebataillons nach mehr modernen Gewehren und Munition kommt da wenig überraschend. Meine Frage nach seiner Rotation und ob er auch Fronturlaub bekomme, beantwortet er lächelnd. Sein Heimatort sei besetzt. Dort könne er nicht hin. Seine Familie sei ins Ausland geflohen. Auch dort könne er als wehrfähiger Mann nicht hin. Er brauche keinen Fronturlaub. Er brauche jetzt Gewehre – für den Sieg. Danach möchte er dann Urlaub machen.

In Zaporischschia ist es ruhig. Die S300-Batterien der Invasionstruppen wurden größtenteils durch HIMARS zerstört. Danach hat der Feind die verbliebenen außer Reichweite der Stadt zurückverlegt. Seitdem ist es ruhiger – keine Häuserzeilen mehr, die willkürlich weggesprengt werden. In den Dörfern weiter südlich sieht das anders aus. Die russische Artillerie kann jederzeit einschlagen und tut es täglich. Einige alte Menschen und wenige Familien wollen das Evakuierungsangebot der ukrainischen Regierung nicht annehmen. Es sei ihre Heimat und man habe doch sonst nichts, meinen sie im Gespräch. Wenn die Armee endlich vorrückt, würde es schon besser. Nur kann sie seit Monaten nicht vorrücken, denn es fehlt an Panzern und Artillerie. Die Zerstörung dieser Dörfer ist ein Zeugnis davon.

Das schlechteste Wasser der Ukraine findet man in Mykolajew. Die Stadt, vor der die Russen gestoppt wurden, hat nach zahlreichen Bombardierungen kein funktionierendes Klärwerk mehr. Man behilft sich mit Wasser aus dem Dnepr – und chlort es ordentlich. Seit von hieraus die Befreiung von Kherson organisiert wurde, sind zumindest die Einschläge massiv zurückgegangen. Diese konzentrieren sich jetzt auf die Nachbarstadt. Zwischen Kherson und den Besatzern liegt nur der Fluss. Der Beschuss erfolgt daher nicht nur mit Raketen, Drohnen und Artillerie – auch Mörser kommen zum Einsatz. Scharfschützen lauern Bürgern auf. Alle zwei, drei Minuten hört man das dumpfe Grollen einer einschlagenden Granate. Dennoch herrscht geschäftiges Treiben in der Stadt, die einst 300.000 Einwohner hatte und heute wohl nur noch 70.000 zählt. Der Gouverneur strotzt vor Optimismus. Er will mit verteilten Kleinstbunkern die Sicherheit seiner Bürger erhöhen und den Wiederaufbau voranbringen. Sein Büro liegt aus Sicherheitsgründen im Keller und ähnelt einem Bunker.
Den Optimismus des Gouverneurs kann der pensionierte Polizist nicht teilen, der mir von seiner wochenlangen Folter durch die Besatzer erzählt. Die Schläge wären verkraftbar gewesen, meint er, aber die Elektroden nicht. Sie wurden manchmal an seinen Ohrläppchen angebracht, manchmal an seinen Hoden. Die Schmerzen der Stromstöße hallen nach. Wir stehen in seiner alten Zelle. Sie ist für zwei bis drei Personen ausgelegt. Sie waren hier zu neunt. An den Wänden Zeilen der Gefangenen, die von der Verzweiflung und der Hoffnung auf Erlösung zeugen. 500 Menschen wurden allein in diesem Haus gefoltert. In ganz Kherson waren es Tausende. Mutig finde ich, dass er mir das erzählt, während die nächste russische Stellung nur gute 2 Kilometer entfernt ist und wir die Artillerie hören. Gebrochen ist er nicht.
Im Kinderkrankenhaus treffe ich eine Ärztin, die Kinder vor der Deportation nach Russland bewahrt hat. Sie gab Behandlungen vor, damit die Kinder bleiben mussten. 10.000 Kinder werden in den besetzten Gebieten vermisst. Sie wurden mutmaßlich nach Russland verschleppt, um dort zur Adoption verkauft zu werden. Unbekümmert ist die Ärztin dennoch nicht. Um die Jahreswende wurde das Kinderkrankenhaus bombardiert – acht Einschläge in unmittelbarer Umgebung. Seitdem ist nur noch das halbe Krankenhaus nutzbar.

Den „Sound of Ukraine“ lerne ich in Odessa kennen. Laut surrende Generatoren vor jedem Café. Das Stromnetz ist fragil. Als ich eine der wichtigsten Trafo-Stationen besuche, erschließt sich mir aus den Spuren der Angriffe auch warum. Die „Luftverteidigung“ der Station besteht aus einem Geschütz aus dem Jahr 1947. Es feuert einen Schuss pro Minute ab. Da haben die Drohnen leichtes Spiel. Militärische Hilfe würden sie hier gern humanitär einsetzen, meint der Direktor der Anlage. Doch davon kommt zu wenig an. So wie auch zu wenig Getreide aus dem Hafen von Odessa in der Welt ankommt, sagt der Gouverneur der Region. Man könne pro Tag bis zu 20 Schiffe abfertigen. Der russische Teil der Arbeitsgruppe im Bosporus bearbeite täglich nur drei bis vier Anträge – sicher nicht aus Versehen.
Das Schwarze Meer kann man in Odessa sehen, spüren kann man es nicht. Alle Zugänge sind abgesperrt, teile der Gewässer sind vermint, um eine Invasion von der See aus zu verhindern.

Zum Abschluss meiner Reise besuche ich Lviv. Man erweitert gerade das Krankenhaus, um der Verwundeten aus dem Osten Herr zu werden. Auch die Prothesenproduktion soll aufgenommen werden. Der Bedarf ist groß. Der Chefarzt spricht mit einem traumatisierten Soldaten aus Bachmut. Er hat nur noch ein Bein.

In den acht Tagen habe ich viele Anekdoten gehört, was man nach dem Sieg alles machen möchte. Wie viele Ukrainer diesen Tag erleben werden und wann, das liegt auch an uns in Deutschland. Die Ukrainer kämpfen und sterben allein, aber nicht nur für sich. Wir sollten so rational sein wie sie und ihnen helfen, so gut wie wir können.